Genau ein Jahr nach Beginn der Invasion in der Ukraine kämpfen einige Musiker an der Front. Andere geben weltweit Konzerte – um ihre Botschaft zu verbreiten und Geld für ihr Land zu sammeln. Wir haben mit ukrainischen Künstler*innen und Menschen aus der Musikbranche darüber gesprochen, wie sie die letzten zwölf Monate erlebt haben und wie man ihnen helfen kann.
Dieser Jahrestag ist erschütternd. Umso wichtiger ist es, einen Moment innezuhalten und sich zu vergegenwärtigen, was am 24. Februar 2022 geschah. Russland griff die Ukraine erneut an. Heute, genau ein Jahr später, dauert der Krieg immer noch an. Im Einklang mit den Werten, die wir bei Europavox seit jeher vertreten (Freiheit, Frieden, Empathie, Geschwisterlichkeit und Verbundenheit zwischen den Ländern) haben wir uns in der ukrainischen Musikszene umgehört und eine starke, hoffnungsvolle Gemeinschaft vorgefunden. Einige sind wie acht Millionen ihrer Landsleute aus dem Land geflohen und versuchen mit beeindruckender Energie, unermüdlicher Kreativität und erstaunlichem Organisationstalent aus dem Ausland zu helfen. Andere leben noch in der Ukraine und kämpfen entweder in der Armee oder arbeiten mit Unterstützung des dortigen Kulturministeriums an musikalischen Initiativen.
So auch Vladyslav Yaremchuk aus Kiew. Vor dem Krieg war er Kurator des Atlas Festivals, dem größten Musikfestival der Ukraine. Er beschloss, das Beste aus seinen Möglichkeiten zu machen und insbesondere sein Netzwerk in der Musikbranche zu aktivieren. Im vergangenen Jahr hat er an mehreren großen Projekten gearbeitet, um seinem Land zu helfen, darunter die gemeinnützige NGO Music Saves UA und der internationale TV-Konzertmarathon Save Ukraine.
„Als die Invasion begann, war ich mit meiner Freundin und meinem Bruder für ein paar Tage zu Besuch bei meiner Mutter“, erinnert sich Vladyslav. „Ich scrollte auf meinem Handy durch die Nachrichten und Gruppen auf Telegram. Ich sah Videos von Explosionen und Raketen, und meine Hand zitterte so sehr, dass ich mein Handy nicht mehr richtig halten konnte. So etwas hatte ich noch nie erlebt. Ich musste es mit beiden Händen halten. Es dauerte ein oder zwei Tage, bis wir bemerkten, dass wir uns in einer relativ sicheren Gegend befanden. Meine Heimatstadt ist ziemlich klein und liegt zwischen Kiew und der Grenze zu Belarus. Es war beängstigend, aber wir versuchten, einen klaren Kopf zu bewahren und durchzuhalten. Nach ein paar Tagen, an denen ich 16 bis 18 Stunden Bildschirmzeit auf meinem Handy verbracht hatte, konnte ich nicht mehr schlafen und dachte daran, dass ich doch eigentlich auch etwas Produktiveres tun könnte.“
Vladyslav Yaremchuk
Musikalisch fühlt sich Vladyslav im Drum and Bass zu Hause. Also beschloss er, ein ebensolches Benefizalbum mit dem Titel „Together with Ukraine“ aufzunehmen. „Wieder kreativ zu arbeiten, hat mich gerettet. Meine Kopfschmerzen hörten auf, und ich konnte besser schlafen. Ich konzentrierte mich auf neue Projekte, anstatt ständig gestresst zu sein, wenn ich Nachrichten las. Das Album ist mit 136 Tracks viel umfangreicher geworden, als wir uns das alle hätten vorstellen können. Für ein paar Wochen war es das meistverkaufte Album auf Bandcamp, wir haben über hunderttausend britische Pfund eingesammelt.“ Vladyslav ist auch ein Teil der Wohltätigkeitsorganisation „Music Saves UA“.
Heute reist er zwischen Kiew und anderen europäischen Städten hin und her (endlose Tage im Zug oder Auto – Fliegen ist in der Ukraine derzeit nicht möglich –, um neue Musikprojekte zu organisieren und sich über die Entwicklungen in seinem Land zu informieren.
Das Bewusstsein für die Situation zu erhalten, ist für die Ukrainer*innen von entscheidender Bedeutung. Aus diesem Grund organisiert Europavox während des Europavox Bukarest Festivals im April eine Podiumsdiskussion zum Krieg und den Auswirkungen auf die Musik. Ein Vertreter von Music Export Ukraine (einer Organisation, die ukrainischen Künstler*innen beim Aufbau einer internationalen Karriere hilft) wird dabei sein.
Als der Krieg vor einem Jahr begann, wachte Alona Dmukhovska, die Mitbegründerin von Music Export Ukraine, vom Klang ihres Smartphones auf. Viele Freunde und Verwandte hatten ihr geschrieben. Geht es dir gut? Drei Tage zuvor hatte sie eine internationale Online-Veranstaltung mit dem British Council in der Ukraine organisiert, und die Nachbereitung des Events hatte so viel Zeit in Anspruch genommen, dass sie kaum die Nachrichten verfolgen konnte. „Es war und ist für mich immer noch eine große Überraschung, dass so etwas im 21. Jahrhundert überhaupt möglich ist“, sagt sie. „Ohne jeglichen Grund einen Krieg zu beginnen. Ein Land zu zerstören, Nachbarn, die einfach anders leben wollen. Es war ein großer Schock und wir wussten nicht, was wir tun sollten. Ob es sicherer wäre, die Stadt zu verlassen, oder ob genau das vielleicht noch gefährlicher sein würde.“
Alona Dmukhovska
„Ich blieb noch eine Woche in Kiew“, erinnert sie sich. „Die ersten Evakuierungszüge waren kostenlos, aber vollkommen überfüllt. Schließlich beschlossen wir, mit sechs anderen in zwei Autos Richtung Süden zu fahren. Wir brauchten drei Tage, um die rumänische Grenze zu erreichen – eine Fahrt, die normalerweise etwa sieben Stunden dauert. Als wir an der Grenze ankamen, durften die Männer, die uns begleiteten, die Ukraine wegen des Kriegsrechts nicht verlassen. Sie kehrten um, und wir Frauen überquerten die Grenze zu Fuß. Und fragten uns, wie alles wohl weitergehen würde.“
Dmukhovska nahm Kontakt zu Bekannten aus der rumänischen Musikszene auf und blieb einige Zeit in Bukarest. Dann zog sie nach Deutschland zu Freunden. Seit April 2022 lebt sie dort, und auch bei ihr hat sich, genau wie bei ihrem Freund Vladyslav Yaremchuk, der Job verändert. „Wir haben Dutzende von Bookings und Konzerte für ukrainische Künstler*innen arrangiert, obwohl das eigentlich gar nicht unser Job ist“, sagt sie.
„Es ist wichtig, so viele Jobs und Möglichkeiten wie möglich für alle Beteiligten zu finden. Die europäische Musikbranche litt bereits unter einem Mangel an Arbeitskräften nach der Pandemie, als sich viele Menschen einfach einen neuen Job suchen mussten. Gleichzeitig haben wir eine große ukrainische Musikindustrie, nicht nur Künstler*innen, sondern auch technische und Produktionsmitarbeiter*innen. Sie sind hochqualifiziert, können aber in ihrem Land nicht arbeiten. Deshalb haben wir eine Online-Datenbank eingerichtet, um sie miteinander in Kontakt zu bringen und ihnen zu helfen, saisonale oder kurzfristige Jobs zu finden. Wir wissen ja nicht, wie lange diese Situation noch andauern wird.“
Music Export Ukraine ist einer der Gründe, warum die ukrainische Musikszene immer noch sichtbar und lebendig ist, Konzerte in ganz Europa stattfinden und Panels auf Festivals mit Teilnehmer*innen des Landes besetzt sind. „Wir versuchen, so aktiv wie möglich zu sein“, fasst Alona zusammen. „Wir nutzen jede Gelegenheit, um das Bewusstsein zu schärfen, aber auch, um unsere Künstler*innen zu unterstützen und sie auf internationaler Ebene sichtbarer zu machen. Die ukrainische Musikszene ist nun mal noch nicht sehr bekannt. Und die meisten Protagonist*innen leben aktuell im Ausland.“
Tóнка
Wie beschreibt sie diese Szene? „Sie hat viele historische Wurzeln. Einerseits haben wir eine starke Tradition im Folk. Vielleicht kennt man die Band DakhaBrakha, die sehr erfolgreich ist und ihre Inspiration aus eben dieser Folk-Tradition zieht. Ich würde sagen, dass die Ukraine eine singende Nation ist. Ob bei der Arbeit oder in der Freizeit: Ukrainer*innen sind dafür bekannt, immer zu singen. Andererseits habe ich vor ein paar Wochen bei einem Panel auf dem Eurosonic-Festival über „Mustache Funk“ gesprochen: In den späten Sechzigern und frühen Siebzigern, während der Sowjet-Ära, hatte sich diese Pop-Bewegung entwickelt – gespielt von jungen, kreativen Künstler*innen, die mit psychedelischer, funky, upbeat und ungewöhnlicher Musik experimentierten.“
Die entsprechende Doku „Mustache Funk“ erschien 2021. Damals, in den 1960er- und 1970er-Jahren, kontrollierte die Regierung alles streng. Und wenn Funktionär*innen zu den Konzerten kamen, blieben sie meist nur für ein paar Lieder am Anfang – um sicherzugehen, dass alles nach Vorschrift lief. „Deshalb waren die ersten drei oder vier Lieder immer langweilig und schlecht. Die Bands wussten sehr genau, wie sie die Regeln umgehen konnten,“ fährt Alona fort.
„Der zweite Teil der Gigs, wenn die Funktionär*innen weg waren, war das genaue Gegenteil: aufregend und innovativ! Manche Bands spielten 300 Konzerte im Jahr, das war damals ungewöhnlich. Es war auch eine gefährliche Zeit: Musiker*innen riskierten getötet oder nach Sibirien geschickt zu werden. Offiziell war ihre Musik verboten. Es dauerte eine Weile, bis diese Szene einer breiteren Öffentlichkeit bewusst wurde. Erst jetzt werden diese Bands wiederentdeckt. Wir haben jetzt eine stabile Industrie wie in den westlichen Ländern, mit starken Elektronik– und Metal-Szenen beispielsweise. Aber es gibt nicht die gleichen Bildungsmöglichkeiten, um zu lernen, wie man Musik macht und spielt. Also experimentieren wir und finden unseren eigenen Weg! Das beste Wort, um ukrainische Musik und Musiker*innen zu beschreiben? Freiheit.“
Foto zur Verfügung gestellt von MEU
Vladyslav Yaremchuk bleibt hoffnungsvoll. „Es ist eine lebendige Szene mit viel Potenzial“, sagt er. „Alle wollen jetzt auf Ukrainisch singen. Es gibt so viele Themen, so viele Künstler*innen, für die Musik die einzige Möglichkeit ist, sich auszudrücken. Bei den Konzerten geht vorrangig um Musik, aber sie schaffen auch eine Atmosphäre der Verbundenheit. Wir finden immer kreativere Wege, um Geld für die Armee oder Wohltätigkeitsorganisationen zu sammeln. Dabei haben wir einige fast schon absurde und unfassbare Projekte auf die Beine gestellt. Einige dieser besonderen Shows werden nie wieder stattfinden, aber ich bin sicher, dass diese innovative Haltung erhalten bleiben wird. Die ukrainische Musikszene durchlebt eine Zeit, in der sie keine Ressourcen hat. Tourneen finden auch nicht statt. Wenn die Musiker*innen wieder ein normales Leben führen können, sehe ich ihre Zukunft sehr positiv. Sie haben endlich zu sich selbst gefunden.“
Zu den aktuellen Bands, die die ukrainische Szene am Leben erhalten, gehört das Psychedlic-Trio Love’n’Joy aus Kiew. „Als der Krieg ausbrach, hatten wir gerade drei Tage zuvor unser neues Album abgemischt und aufgenommen,“ erzählt Anton Pushkar, Sänger, Songwriter und Gitarrist, der seine Kindheit auf der Krim verbrachte. „Half Home“ wurde im September 2022 in einer Weltlage veröffentlicht, die mit der, in der das Album aufgenommen wurde, nichts mehr zu tun hatte. Anton schaffte es mit einem Evakuierungszug von Kiew nach Ternopil im Westen des Landes, wo seine Großmutter lebt. Dort blieb er einige Monate und hatte eine Idee: „Wir trafen uns mit einem befreundeten Musiker von Shpytal Records in der Westukraine und beschlossen gemeinsam, die Stiftung Musicians Defend Ukraine zu gründen.“
Love’n’Joy
„Ukrainische Musiker*innen sind zu Freiwilligen geworden. Am Anfang ging es nur darum, Geld von unseren Freund*innen aus der Musikbranche in Europa zu sammeln und zu sehen, ob ein paar Auftritte organisiert werden könnten. Es hat funktioniert und wir konnten den Musikern, die im Krieg kämpfen, helfen, indem wir ihnen Helme und andere Ausrüstungsgegenstände gekauft und an die Front geschickt haben. Inzwischen sind wir ein Team von sieben Leuten.“ Heute ist Pushkar nonstop unterwegs, tourt mit Love’n’Joy durch Europa und wirbt für die Stiftung. Am 2. Juli 2023 spielt die Band beim Europavox-Festival in Frankreich.
Auch Alina Pash lebt aktuell im Ausland. Seit etwa einem Monat ist sie in L.A., um dort neue Musik zu schreiben. Wir sprechen mit ihr via Zoom. „Ich verstehe, dass alle ihr eigenes Leben leben und nicht permanent mit diesem Trauma und den Problemen konfrontiert werden wollen. Es ist logisch, dass die Ukraine in den Nachrichten weniger präsent ist. Das ist gleichzeitig aber auch traurig. Was kann ich noch tun, um der Welt zu erklären, wie es ist? Wer nicht aus der Ukraine stammt, wird es nie verstehen.“Alle Details sind dabei für uns wichtig und wertvoll, zum Beispiel, dass wir im Moment nicht mit Russland arbeiten.“ Sie erzählt, dass sie kürzlich ein lukratives Angebot abgelehnt hat, einen ihrer Songs ihrer Songs in einem Hollywood-Film zu verwenden. Das Drehbuch glorifiziert die russische Mafia. „Ich will nicht die Zerstörung Russlands“, sagt sie. „Ich will nur Gerechtigkeit. Diese Grausamkeit hat keinen Platz in der Welt, sie ist das pure Böse. Und jetzt kann die ganze Welt es sehen. Es gibt keinen Weg zurück. Natürlich werde ich mich für den Rest meines Lebens an den 24. Februar 2022 erinnern.“
Alina Pash
An diesem Tag war Alina Pash in Zakarpattia, ihrer Heimatstadt in den Karparten, nahe der rumänischen Grenze. Zwölf Jahre hatte sie in Kiew gelebt – dem, wie sie sagt, „schönsten Ort der Erde. Und ich war schon in 54 Ländern!”
„Als mein Vater an die Front ging, sagte er mir, dass ich am besten das tun sollte, was mir mein Herz sagt. Und das ist, Künstlerin zu sein, Ich habe mich entschieden, zu den Menschen zu sprechen, sei es bei Benefizkonzerten oder auf der Straße, und ihnen alle Aspekte der Geschichte zu erklären, warum sie für die Ukrainer*innen, aber auch für die Menschheit im Allgemeinen wichtig ist.“
Auch Alona Dmukhovska von Music Export Ukraine ist davon überzeugt, dass die Ukraine ein wichtiges Thema bleiben muss: „Der Rest der Welt hat diesen Krieg satt, und das können wir gut verstehen. Aber es ist wichtig, dass wir nicht vergessen werden. Natürlich ist es mental unmöglich, all die schrecklichen Geschichten in den Nachrichten zu lesen. Aber wenn wir unsere persönliche Geschichte in einem Song erzählen, sind die Menschen bereit, zuzuhören und mitzufühlen. Das ist die Kraft der Musik.“
Was können Musik-Fans tun, um die ukrainische Musikszene zu unterstützen, außer an ihre Musiker*innen zu denken? Alona Dmukhovska hat viele Ideen: „Ukrainische Musik über Streaming-Dienste hören. Das gibt Künstler*innen die Möglichkeit, wenigstens ein bisschen Geld zu verdienen und etwas Unterstützung zu bekommen. Viele von ihnen sind jetzt Freiwillige in der Armee.“
„Spielt ein paar ukrainische Songs im Radio! Und wenn ihr für Festivals arbeitet, bucht unsere Künstler*innen.“
Foto zur Verfügung gestellt von MEU
Vladyslav Yaremchuk stimmt zu: „Lernt die Musik aus der Ukraine kennen. Nicht weil Krieg ist, sondern weil sie es schon vor dem Krieg wert war, entdeckt zu werden. Die Musik ist wirklich gut! Sie wird euch gefallen, wenn ihr sie hört. Und sich mit ihr zu beschäftigen und sie mit anderen Menschen zu teilen, ist schon eine große Hilfe. Wenn ukrainische Künstler*innen in eurem Land auftreten, kauft euch Tickets und geht hin.“
„Sie alle spenden Geld. Wenn Musiker*innen bei euch spielen: Hört euch ihre Geschichten an. Kauft ihre Musik, wenn ihr könnt, und teilt sie. Schenkt ihnen einfach etwas Aufmerksamkeit, und wenn ihr sie wirklich mögt, lasst es sie wissen. Wenn der eine oder die andere von euch in der Musikbranche arbeitet: unterstützt sie. Wir sind bereit, alles dafür zu tun. Wir wollen gesehen und gehört werden.“
Dieses Gefühl der Solidarität ist nicht nur notwendig – es ist lebenswichtig. Die Lebensrealität von Künstler*innen hat sich verändert, sie haben neue Verantwortungen übernommen, um ihre Stimme zu erheben und ihr Land zu unterstützen. Natürlich hoffen wir, dass sie alle bald wieder zu ihrer Leidenschaft, der Musik, zurückkehren können. Entspannter und in friedlichen Zeiten. Wir hoffen auch aufrichtig, dass wir diesem Jahrestag im nächsten Jahr nicht noch einmal gedenken müssen.